Totes Land (Teil 1)

Ein eisiger Hauch wehte über der verschneiten Landschaft des winterlichen Tobriens. Behende verliess der einsame Läufer das offene Feld und verbarg sich vor seinen Verfolgern im nahen Wald. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. War er gerade noch durch knöchelhohen Schnee gelaufen und hatte den beissenden Wind auf seinem Gesicht verspürt, so war es im Wald brodelnd heiss. In letzter Sekunde wich er dem dunklen Ast aus, der mit dämonischer Geschwindigkeit auf ihn zu raste. Der bestialische Gestank liess in erzittern. Schon der Geruch eines Tatzelwurms war ein Grund für ihn, dass Weite zu suchen. Doch er hatte keine Wahl. Das Bellen der hundeartigen Monstren kam immer näher. Er musste den Wald durchqueren. Die Natur war abartig verstümmelt. Ein Ascheschleier lag auf dem verdorrten Boden. Schnee gab es keinen, nur trockene Hitze. Jeder Schritt brannte. Längst hatten Kleidung und Schuhe angefangen zu verrotten. Lange konnte hier niemand überleben.

Endlich erkannte er den lichten Waldrand. Das vertraute Rauschen eines Waldflusses drang an sein Ohr. Doch als er den letzten Baum hinter sich gelassen hatte, hielt er abrupt an. Schwarz war das Wasser zu seinen Füssen. Auf den Wellen schienen schrecklich verzerrte Gesichter zu liegen. Der Verfolgte hörte das stöhnende, kreischende Wehklagen verlorener Seelen. Er war in der Sackgasse. Die Jäger kamen näher. Schnell entledigte er sich der Reste seiner Kleidung. Er warf alles in den Fluss, um keine Spuren zu hinterlassen.
"Visya'bha lir faenya'dha!", erklang seine Stimme.
Ein Kopfnicken später war er verschwunden.

Shayad zog die Kapuze tiefer ins Gesicht, als er durch die gigantischen Häuserschluchten eilte. Bald hatte er einen Platz erreicht, auf dem sich eine riesige Menschenmasse drängte. Ein mehrere Schritt hohes Podium in der Mitte bewirkte, dass man das Geschehen bis in die einmündenden Seitenstrassen verfolgen konnte. Shayad schauerte, als er erkannte, wer da auf der Bühne stand. An den vier Ecken stand jeweils ein Irrhalkengardist, jene Veteranen, die Galottas Eliteregiment und Leibgarde darstellten. Die schwarzen Rüstungen hatten eine seltsam majestätische Ausstrahlung. Bedrohlich hielten sie Schwert und Schild, die ebenfalls schwarz waren. Im Zentrum des Podiums stand ein Scharfrichter mit roter Kapuze. Mit beiden Händen umfasste er den Griff seines Schwertes, dass anderorts wohl als Boronsichel bekannt war. Neben ihm stand ein hochgewachsener, braunhaariger Krieger. Bekleidet war er nur mit einer zerschlissenen Hose, einem verdreckten, rissigen Hemd und einigen Schnallen und Beschlägen, die wohl ehedem zu einem Lederharnisch gehört hatten. Seine Hände waren gefesselt. Das Haupt hatte er aufrecht, ungebrochen war der Stolz in seinen Augen. Daneben stand ein weiterer Mann, der wie die Gardisten eine schwarze Rüstung trug und einen mächtigen Bihänder schwang. Er erhob seine Stimme:
"Dieser Mann hat in beispielloser Manier die heiligen Gesetze unseres Herrn Tyakra'man missachtet, indem er ohne entsprechende Erlaubnis das Reich des glorreichen Dämonenkaisers Galotta betreten hat. Von vornherein hatte er die Absicht, seinen Gefährten, mit dem er konspirative Beziehungen bis in jüngste Zeit unterhalten hatte, dem Urteilspruch unseres Kaisers und damit dem des heiligen Tyakra'man zu entziehen. Dieser Gefangene wurde angesichts seiner Verfehlungen unverzüglich hingerichtet." Dann warf er einen verächtlichen Blick auf den Gefesselten. "Das Schicksal, dass dieses verachtenswerte Subjekt erleiden wird, soll jedoch als Beispiel gereichen für all jene, die denken, sie könnten sich dem heiligen Willen des Kaisers widersetzen. Es wird daher unverzüglich und öffentlich vollstreckt."

Der Scharfrichter legte den Kopf des Kriegers auf den Richtblock, der vor ihm stand. Er hob sein monströses Schwert. Doch es sauste nicht herab! Stattdessen wich der Henker verdutzt zurück und blickte auf seine Brust. Wo zuvor seine prächtige Rüstung die muskulöse Brust bedeckt hatte, war nur noch ein kreisförmiges Brandmal erkennbar. Mit einem Zucken fiel er zu Boden.
"Ich bin Shayad ibn Khalid und ich werde auch Söhne eines Ifriit in die Niederhöllen befördern", schrie der Magier und rannte in Richtung Plattform.
Sogleich sprang der Gefangene auf. Geistesgegenwärtig riss der Offizier sein Schwert nach oben. Es sauste herab, der Krieger sprang zurück. Doch die Fesseln hielt er genau in die Bahn des Schlages. Dieser Beschränkung entledigt, warf er sich zu Boden um dem waagerechten Folgehieb des Gegners zu entkommen. Blitzschnell griff er nach dem Schwert des gefallenen Scharfrichters. Kaum war er auf den Beinen, landete er einen vernichtenden Treffer, der den Offizier röchelnd vom Podest fallen liess.

Währenddesssen war der Magier auf die Plattform gesprungen und hatte sein Flammenschwert illuminiert. Der nächststehende Gardist war so überrascht, dass er nicht mal mehr sein Schild zur Abwehr heben konnte. Einer der verbliebenen Gardisten eilte seinem Hauptmann zu Hilfe, während die anderen zwei den Magier attakierten. Dieser war jedoch kein Kämpfer. Schnell hatten ihm seine Gegner einige Wunden geschlagen und er taumelte zurück. Im Fallen holte er mit dem Schwert aus und hieb einem der Gardisten den Schwertarm ab, was diesen verschreckt von der Bühne springen und das Weite suchen liess. Der andere hob das Schwert, um dem Zauberer ein unglückliches Ende zu bereiten. "Hier bin ich, Unhold!", erscholl der Ruf des Kriegers, der ehrbar genug war, um keinen Feind, und sei es ein elender Paktierer, hinterrücks zu ermorden.
Der Gardist drehte sich um und hieb nach dem Spötter. Dieser wehrte ab und schlug dem verdutzten Wachmann den Kopf ab. Der letzte Gardist lag bereits in einer Blutlache neben dem Richtblock und hatte schon kurz zuvor den Zorn des Kriegers zu spüren bekommen.

"Ergreift sie!"
Aus einer Seitengasse kamen gut zwei Dutzend Söldlinge und strebten dem Ort des Geschehens entgegen.
Der Krieger hatte den Magier auf die Schulter genommen und rannte in die entgegengesetzte Richtung. Als er einige hundert Schritt gelaufen war, spürte er die aufkommende Erschöpfung. Plötzlich wurde direkt vor seiner Nase eine Tür aufgerissen.
"Sala! Hier!"
Mit letzter Kraft warf sich der Kämpfer in die Dunkelheit, die hinter der Tür lauerte. Keinen Moment zu früh, wie sich zeigte. Sekunden später erklangen die Stiefel von einem halben Banner Söldlinge. Hagen hielt die Luft an und vernahm die Rufe der Verfolger, hörte wie sie sich immer weiter entfernten. Sie waren in Sicherheit, zumindest im Moment.

Der Magier hatte das Bewusstsein schnell wieder erlangt. Über der Spitze seines Stabes erschien ein helles Licht. Der Raum in dem sie sich nun befanden, war keine zehn Rechtschritt gross. Die Wände waren grau. Gegenüber der Eingangstür führte ein offener, mit Vorhängen verhangener Durchgang ins Innere des Hauses. Das Gebäude wirkte verlassen. Der hochgewachsene Elf, der sie augenscheinlich gerettet hatte, war nackt. Er stand in der Mitte des Raumes. Peinlich berührt senkte der Krieger den Kopf. Der Magier bedankte sich zunächst auf seine tulamidisch überschwengliche Art bei dem Krieger für die Rettung seines Stabes, den er seit jeher wie seinen Augapfel hütete. Dennoch war es ihm sichtlich unangenehm, in derartige Bedrängnis geraten zu sein und sein Ego erhielt einen schweren Dämpfer. Erst dann kam er überhaupt auf die Idee, den Gefährten für seine eigene Rettung zu danken. Er konnte sich von nichts trennen, was von Wert war und von seinem Magierstab schon gar nicht. Im wurde von vielen der schon sprichwörtliche zwergische Geiz nachgesagt.

"Danke Valandriel", erhob Hagen das Wort. "Dennoch hättest du früher hier sein sollen. Es wäre beinahe schief gegangen."
Hagen war schon immer recht undiplomatisch gewesen, was den Elfen aber nie gestört hatte. Auch er neigte gelegentlich zu unangebrachten Bemerkungen, was ihm aber weder bewusst noch wichtig war, da er als Waldelf die Sorgen mancher Rosenohren ohnehin nicht verstehen konnte.
"Auch ich war in Bedrängnis! Ich war wohl unachtsam, zumindest war der Grossteil meiner Reise von meiner Flucht vor den telorzaa bestimmt, die dem folgen, den ihr Galotta nennt. Nun, wir sind in Sicherheit, dennoch rate ich zum baldigen Aufbruch. Von diesem Ort geht eine unangenehme taubra aus und seit ich das Land der von widir arc verfluchten Wälder betreten habe, kann ich meine mandra nur noch sehr spärlich einsetzen. Das ist auch der Grund, warum ich mich erst in letzter Sekunde vor den telorzaa retten konnte."

"Nun gut, gehen wir!", sprach Shayad, der Magier und erhob die geballten Fäuste. "Planastrale Anderwelt! Dunkler Spalt im Himmelszelt!"
Ein türgrosser Durchgang öffnete sich, dahinter das graue Wabbern des Limbus. Sogleich sprang Shayad hinein und war verschwunden. Valandriel zögerte kurz und verschwand dann ebenfalls. Hagen hatte seit jeher eine gewisse Skepsis gegenüber jeglicher Zauberei, auch nachdem er Jahre mit einem Elfen und einem Magier durch Aventurien gezogen war. Dieser Zauber war ihm nicht bekannt und darum war er ein wenig verunsichert. Doch schliesslich sprang auch er in die unendliche Tiefe und der Spalt schloss sich hinter ihm.

 

 

 

 

 

 

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