Ein eisiger Hauch wehte über der verschneiten Landschaft des winterlichen Tobriens. Behende verliess der einsame Läufer das offene Feld und verbarg sich vor seinen Verfolgern im nahen Wald. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. War er gerade noch durch knöchelhohen Schnee gelaufen und hatte den beissenden Wind auf seinem Gesicht verspürt, so war es im Wald brodelnd heiss. In letzter Sekunde wich er dem dunklen Ast aus, der mit dämonischer Geschwindigkeit auf ihn zu raste. Der bestialische Gestank liess in erzittern. Schon der Geruch eines Tatzelwurms war ein Grund für ihn, dass Weite zu suchen. Doch er hatte keine Wahl. Das Bellen der hundeartigen Monstren kam immer näher. Er musste den Wald durchqueren. Die Natur war abartig verstümmelt. Ein Ascheschleier lag auf dem verdorrten Boden. Schnee gab es keinen, nur trockene Hitze. Jeder Schritt brannte. Längst hatten Kleidung und Schuhe angefangen zu verrotten. Lange konnte hier niemand überleben.
Endlich erkannte er den lichten Waldrand. Das vertraute
Rauschen eines Waldflusses drang an sein Ohr. Doch als er den letzten Baum
hinter sich gelassen hatte, hielt er abrupt an. Schwarz war das Wasser zu
seinen Füssen. Auf den Wellen schienen schrecklich verzerrte
Gesichter zu liegen. Der Verfolgte hörte das stöhnende,
kreischende Wehklagen verlorener Seelen. Er war in der Sackgasse. Die Jäger
kamen näher. Schnell entledigte er sich der Reste seiner Kleidung. Er
warf alles in den Fluss, um keine Spuren zu hinterlassen.
"Visya'bha
lir faenya'dha!", erklang seine Stimme.
Ein Kopfnicken später
war er verschwunden.
Shayad zog die Kapuze tiefer ins Gesicht, als er durch
die gigantischen Häuserschluchten eilte. Bald hatte er einen Platz
erreicht, auf dem sich eine riesige Menschenmasse drängte. Ein
mehrere Schritt hohes Podium in der Mitte bewirkte, dass man das Geschehen
bis in die einmündenden Seitenstrassen verfolgen konnte. Shayad
schauerte, als er erkannte, wer da auf der Bühne stand. An den vier
Ecken stand jeweils ein Irrhalkengardist, jene Veteranen, die Galottas
Eliteregiment und Leibgarde darstellten. Die schwarzen Rüstungen
hatten eine seltsam majestätische Ausstrahlung. Bedrohlich hielten
sie Schwert und Schild, die ebenfalls schwarz waren. Im Zentrum des
Podiums stand ein Scharfrichter mit roter Kapuze. Mit beiden Händen
umfasste er den Griff seines Schwertes, dass anderorts wohl als
Boronsichel bekannt war. Neben ihm stand ein hochgewachsener,
braunhaariger Krieger. Bekleidet war er nur mit einer zerschlissenen Hose,
einem verdreckten, rissigen Hemd und einigen Schnallen und Beschlägen,
die wohl ehedem zu einem Lederharnisch gehört hatten. Seine Hände
waren gefesselt. Das Haupt hatte er aufrecht, ungebrochen war der Stolz in
seinen Augen. Daneben stand ein weiterer Mann, der wie die Gardisten eine
schwarze Rüstung trug und einen mächtigen Bihänder schwang.
Er erhob seine Stimme:
"Dieser Mann hat in beispielloser Manier
die heiligen Gesetze unseres Herrn Tyakra'man missachtet, indem er ohne
entsprechende Erlaubnis das Reich des glorreichen Dämonenkaisers
Galotta betreten hat. Von vornherein hatte er die Absicht, seinen Gefährten,
mit dem er konspirative Beziehungen bis in jüngste Zeit unterhalten
hatte, dem Urteilspruch unseres Kaisers und damit dem des heiligen
Tyakra'man zu entziehen. Dieser Gefangene wurde angesichts seiner
Verfehlungen unverzüglich hingerichtet." Dann warf er einen verächtlichen
Blick auf den Gefesselten. "Das Schicksal, dass dieses
verachtenswerte Subjekt erleiden wird, soll jedoch als Beispiel gereichen
für all jene, die denken, sie könnten sich dem heiligen Willen
des Kaisers widersetzen. Es wird daher unverzüglich und öffentlich
vollstreckt."
Der Scharfrichter legte den Kopf des Kriegers auf den
Richtblock, der vor ihm stand. Er hob sein monströses Schwert. Doch
es sauste nicht herab! Stattdessen wich der Henker verdutzt zurück
und blickte auf seine Brust. Wo zuvor seine prächtige Rüstung
die muskulöse Brust bedeckt hatte, war nur noch ein kreisförmiges
Brandmal erkennbar. Mit einem Zucken fiel er zu Boden.
"Ich bin
Shayad ibn Khalid und ich werde auch Söhne eines Ifriit in die
Niederhöllen befördern", schrie der Magier und rannte in
Richtung Plattform.
Sogleich sprang der Gefangene auf. Geistesgegenwärtig
riss der Offizier sein Schwert nach oben. Es sauste herab, der Krieger
sprang zurück. Doch die Fesseln hielt er genau in die Bahn des
Schlages. Dieser Beschränkung entledigt, warf er sich zu Boden um dem
waagerechten Folgehieb des Gegners zu entkommen. Blitzschnell griff er
nach dem Schwert des gefallenen Scharfrichters. Kaum war er auf den
Beinen, landete er einen vernichtenden Treffer, der den Offizier röchelnd
vom Podest fallen liess.
Währenddesssen war der Magier auf die Plattform
gesprungen und hatte sein Flammenschwert illuminiert. Der nächststehende
Gardist war so überrascht, dass er nicht mal mehr sein Schild zur
Abwehr heben konnte. Einer der verbliebenen Gardisten eilte seinem
Hauptmann zu Hilfe, während die anderen zwei den Magier attakierten.
Dieser war jedoch kein Kämpfer. Schnell hatten ihm seine Gegner
einige Wunden geschlagen und er taumelte zurück. Im Fallen holte er
mit dem Schwert aus und hieb einem der Gardisten den Schwertarm ab, was
diesen verschreckt von der Bühne springen und das Weite suchen liess.
Der andere hob das Schwert, um dem Zauberer ein unglückliches Ende zu
bereiten. "Hier bin ich, Unhold!", erscholl der Ruf des
Kriegers, der ehrbar genug war, um keinen Feind, und sei es ein elender
Paktierer, hinterrücks zu ermorden.
Der Gardist drehte sich um
und hieb nach dem Spötter. Dieser wehrte ab und schlug dem verdutzten
Wachmann den Kopf ab. Der letzte Gardist lag bereits in einer Blutlache
neben dem Richtblock und hatte schon kurz zuvor den Zorn des Kriegers zu
spüren bekommen.
"Ergreift sie!"
Aus einer Seitengasse
kamen gut zwei Dutzend Söldlinge und strebten dem Ort des Geschehens
entgegen.
Der Krieger hatte den Magier auf die Schulter genommen und
rannte in die entgegengesetzte Richtung. Als er einige hundert Schritt
gelaufen war, spürte er die aufkommende Erschöpfung. Plötzlich
wurde direkt vor seiner Nase eine Tür aufgerissen.
"Sala!
Hier!"
Mit letzter Kraft warf sich der Kämpfer in die
Dunkelheit, die hinter der Tür lauerte. Keinen Moment zu früh,
wie sich zeigte. Sekunden später erklangen die Stiefel von einem
halben Banner Söldlinge. Hagen hielt die Luft an und vernahm die Rufe
der Verfolger, hörte wie sie sich immer weiter entfernten. Sie waren
in Sicherheit, zumindest im Moment.
Der Magier hatte das Bewusstsein schnell wieder erlangt. Über der Spitze seines Stabes erschien ein helles Licht. Der Raum in dem sie sich nun befanden, war keine zehn Rechtschritt gross. Die Wände waren grau. Gegenüber der Eingangstür führte ein offener, mit Vorhängen verhangener Durchgang ins Innere des Hauses. Das Gebäude wirkte verlassen. Der hochgewachsene Elf, der sie augenscheinlich gerettet hatte, war nackt. Er stand in der Mitte des Raumes. Peinlich berührt senkte der Krieger den Kopf. Der Magier bedankte sich zunächst auf seine tulamidisch überschwengliche Art bei dem Krieger für die Rettung seines Stabes, den er seit jeher wie seinen Augapfel hütete. Dennoch war es ihm sichtlich unangenehm, in derartige Bedrängnis geraten zu sein und sein Ego erhielt einen schweren Dämpfer. Erst dann kam er überhaupt auf die Idee, den Gefährten für seine eigene Rettung zu danken. Er konnte sich von nichts trennen, was von Wert war und von seinem Magierstab schon gar nicht. Im wurde von vielen der schon sprichwörtliche zwergische Geiz nachgesagt.
"Danke Valandriel", erhob Hagen das Wort. "Dennoch
hättest du früher hier sein sollen. Es wäre beinahe schief
gegangen."
Hagen war schon immer recht undiplomatisch gewesen,
was den Elfen aber nie gestört hatte. Auch er neigte gelegentlich zu
unangebrachten Bemerkungen, was ihm aber weder bewusst noch wichtig war,
da er als Waldelf die Sorgen mancher Rosenohren ohnehin nicht verstehen
konnte.
"Auch ich war in Bedrängnis! Ich war wohl unachtsam,
zumindest war der Grossteil meiner Reise von meiner Flucht vor den
telorzaa bestimmt, die dem folgen, den ihr Galotta nennt. Nun, wir sind in
Sicherheit, dennoch rate ich zum baldigen Aufbruch. Von diesem Ort geht
eine unangenehme taubra aus und seit ich das Land der von widir arc
verfluchten Wälder betreten habe, kann ich meine mandra nur noch sehr
spärlich einsetzen. Das ist auch der Grund, warum ich mich erst in
letzter Sekunde vor den telorzaa retten konnte."
"Nun gut, gehen wir!", sprach Shayad, der
Magier und erhob die geballten Fäuste. "Planastrale Anderwelt!
Dunkler Spalt im Himmelszelt!"
Ein türgrosser Durchgang öffnete
sich, dahinter das graue Wabbern des Limbus. Sogleich sprang Shayad hinein
und war verschwunden. Valandriel zögerte kurz und verschwand dann
ebenfalls. Hagen hatte seit jeher eine gewisse Skepsis gegenüber
jeglicher Zauberei, auch nachdem er Jahre mit einem Elfen und einem Magier
durch Aventurien gezogen war. Dieser Zauber war ihm nicht bekannt und
darum war er ein wenig verunsichert. Doch schliesslich sprang auch er in
die unendliche Tiefe und der Spalt schloss sich hinter ihm.
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